Modellrechnungen: Peak von Delta liegt hinter uns, aber Omikron ist keine Welle, sondern eine Wand

Kurzfassung:

  • Die gute Nachricht: Der Peak der Delta-Welle liegt hinter uns
  • Die schlechte Nachricht: Im Vergleich zur Delta-Welle ist Omikron eher eine Wand
  • Ohne einen koordinierten Lockdown dürften wir in Pandemie-Belastungen kommen, die jenseits von allem liegen, was wir bisher kennen.

Teil 1: Nochmal kurz zur Delta-Welle

Wahrscheinlich ist es das letzte Mal, dass ich hier über die Aussichten der Delta Welle berichten werde, nächste oder spätestens übernächste Woche wird die Delta-Welle relativ unwichtig geworden sein.

Die Inzidenz-Vorhersage (Szenario “Bürger-Lockdown”) für Montag 7.12. lag letzte Woche bei 432, es werden wohl ca. 450. Gut getroffen! In der Fallzahlen-Grafik links oben sieht man: wir sind über den Peak der Delta-Welle hinweg und Delta sinkt langsam (zu langsam!).

Die andere drei Grafiken zeigen:

  • weder Hospitalisierungen noch ITS-Belegung liegen auf Niveau, das das Modell für optimale Versorgung erwartet hat, wahrscheinlich aus deswegen….
  • liegt die Anzahl der Verstorbenen um ca. 25% höher als erwartet (+500/Woche).

Sowohl die Hospitalisierungen als auch die ITS-Belegungen haben bei 10.000 pro Woche bzw. bei 5.000 COVID-ITS-Betten eine Sättigungsgrenze erreicht, die uns noch 3-4 Wochen erhalten bleiben wird. Die Krankenhäuser sind also schon voll. Und dann kommt….

Teil 2: Omikron!

Die ZEIT schreibt: “Wenn sich bewahrheitet, was diese ersten Daten nahelegen, dann käme Omikron einem vollständigen Reset der Pandemie sehr nahe. Es könnte sich, unternimmt die Politik nichts und ändern Menschen ihr Verhalten nicht, genauso ungebremst durch Bevölkerungen fressen wie Anfang 2020“

Der aktuelle Status
(nerdy Faktensammlung – muss nicht jeder gelesen haben)

  • Dänemark war vor 4 Tagen schon bei 5% Omikron, Schottland vorgestern bei 13% (Quelle). Wir müssen davon ausgehen, dass wir locker in der gleichen Liga spielen, ich schätze wir liegen mindestens bei 2%.
  • Omikron wächst in Gauteng, Schottland, England und Dänemark mit einer Verdopplungszeit von 2-3 Tagen. Wir hatten in 2 Jahren nie weniger als 10-12 Tage Verdopplungszeit (Quelle). 2-3 Tage bedeutet es kommt keine Welle, es kommt eine Wand. Was Delta in 60 Tagen schaffte, schafft Omikron in 12. Wir können für Deutschland eher von kürzerer als längerer Verdopplungszeit ausgehen als DK/UK, weil wir einen hohen Anteil an Ungeimpften haben, die gar keinen Schutz haben.
  • Omikron senkt Infektionsschutz von 1+2.Impfung auf bestenfalls 40%, vielleicht sogar weniger. Booster hebt den Schutz zumindest auf 70% (Quelle), aber nur 22% haben bisher den Booster. Der statistische Gesamtschutz der Bevölkerung vor Infektion ist somit ziemlich mau.
  • Wir erwarten, dass die Impfungen auch bei Omikron gut vor schweren Verläufen schützen, wieviel ist unklar.
  • Ob Omikron weniger krank/tot macht wissen wir noch nicht, die Daten dafür kommen erst zusammen. Drosten hat noch etwas Hoffnung, aber ich habe nicht arg viel. In Afrika trifft Omikron auf eine Bevölkerung, die fast komplett geimpft/infiziert war, und trotzdem steigen die Patienten/ITS-Zahlen steil an.
  • “Selbst wenn wir Glück haben und Omikron eine etwas weniger schwere Krankheit verursacht, wird die schiere Zahl der gleichzeitigen Fälle das Gesundheitssystem komplett umhauen. Inzidenzen von 10.000 sind mit Omikron theoretisch möglich, wenn nicht reagiert wird” (schreibt Cornelius Römer).
  • Hier schreibe ich über die Mathematik dahinter: ein exponentielles Wachstum (Fallzahlen) ist immer stärker als eine lineare Absenkung (x% weniger Patienten als Delta).

Ab etwa Weihnachten werden wir noch mehr Unsicherheit haben, als zuletzt mit Delta: In dem Augenblick, in dem wir Omikron in Inzidenzen als erste Stufe nach oben “sehen” können, werden wir Omikron noch nur ca. 6 bis 9 Tage zuschauen können beim Wachsen, dann verschwindet Omikron in den Wolken und wir haben keine Ahnung mehr was gerade los ist.

Erklärung: Wir sind ja schon bei Inzidenz 450+, wenn Omikron 10% ausmacht, wäre Omikron Inzidenz 45, das wäre gerade mal sichtbar gegen 450 Delta. Wenn wir jetzt bei ca. 2% sind, wird der 10% Punkt in der nächsten Woche erreicht sein. Dann, 2-3 Tage später hat Omikron Inzidenz 90, 2-3 Tage später 180, 2-3 Tage später 360, zusammen mit Delta=400 macht fast 800, spätestens dann kommen unsere Meldesysteme nicht mehr mit. Das ist also in 12-18 Tagen, =Weihnachten. Also haben wir ab dann völligen Blindflug. Schlimmer noch: Diese Entwicklung wird teilweise in den Weihnachtsferien stattfinden, wenn durch Feiertage/Urlaubsphase unser deutsches Meldesystem sowieso am Boden liegt. Wenn wir doch wenigstens ein Abwasser-Monitoring hätten….

Daraus abgeleitete Annahmen für die folgende Modellierung

Für die Modellierung verwende ich mein gut geschmiertes Delta Modell, das ich um Omikron ergänzt habe, und gehe zusätzlich von folgenden Unterschieden zwischen Delta und Omikron aus um den Raum der möglichen Entwicklungen einzugrenzen:

  • Omikron wächst (wenn nicht gestört) mit 3 Tagen Verdopplungszeit (optimistisch), dafür umgeht Omikron ca. 90% des Schutzes gegen Ansteckung und hat einen 30% höheren R0 als Delta.
  • Omikron hat am Ende der KW 6.12. (also übermorgen, Montag) einen Anteil von 2% (optimistisch). Selbst wenn ich damit um Faktor 2 falsch liege, sind das weniger als 2 Tage hin oder her auf der Zeitachse.
  • Omikron macht so krank wie Delta, oder halb so krank, oder 1/10 so krank (wobei für das Modell unerheblich ist, ob dieser Effekt durch einen schwächeren Virus oder einen besseren Bestand des Schutzes der Impfungen gegen schwere Verläufe entsteht – beides wissen wir nicht).
  • Es erfolgt ein “großer Lockdown” am 20.12./27.12./3.1., oder eben nicht.
  • Die Bürger ändern ihr Verhalten im Laufe der Modellrechnung nicht (unrealistisch, aber nötig um Worst-Case-Szenario zu berechnen)

Das macht 6 Szenarien plus ein Bonus-Szenario D “Bürgerlockdown”, in dem ich dann auch deutliche Verhaltensänderungen bei steigender Inzidenz modelliere. Der Anfang der Welle wird wahrscheinlich von lokalen Ausbrüchen in kleineren Regionen des Landes geprägt sein, mit entsprechenden Nachrichten und Bildern, was dann zu einem zunehmenden Sich-Zusammenreißen der Bevölkerung führen wird. Die vielen Krankheitsfälle werden auch dazu führen, dass viele Kontakte nicht mehr stattfinden werden.

Szenarien
Omikron macht so krank wie DeltaSzenario Akein Lockdown
Szenario ALockdown
Omikron macht 1/2 so krank wie DeltaSzenario Bkein Lockdown
Szenario BLockdown
Szenario DBürgerlockdown
Omikron macht 1/10 so krank wie DeltaSzenario Ckein Lockdown
Szenario CLockdown

Ich zeige hier für diese 7 Szenarien bewusst nur zwei Kurven:

  • Die theoretische Inzidenz-Kurve: Wie oben beschrieben werden wir ab Weihnachten keine brauchbaren Inzidenzwerte mehr vom RKI gemeldet bekommen. Diese Kurven zeigen also den theoretischen weiteren Verlauf.
  • Die theoretisch benötigte Anzahl der COVID-ITS-Betten zeige ich, weil diese die “Spitze des Eisbergs” sind, der finale Indikator für die Belastung des Gesundheitssystems. Alle Versorgungsstufen darunter, durch die die späteren ITS-Patienten durchlaufen, quietschen bzw. kollabieren schon 1-2 Wochen vorher. Nicht eingerechnet ist außerdem, dass es bei extremen Inzidenzen zu Personalengpässen kommt, z.B. bei Inzidenz 10.000 ist jeder 10-te Bürger infiziert.

Eine Berechnung z.B. von Todesopfern ist zum aktuellen Zeitpunkt nicht belastbar möglich, auch weil unklar ist, wie sich die Sterberate bei derartiger Überlastung des Gesundheitssystems entwickeln wird.

Wichtig: Was jetzt kommt sind Modellrechnungen. Anhand von 7 Szenarien versuche ich den Raum der möglichen Entwicklungen aufzuzeigen und auch welche Handlungsoptionen welche Folgen haben. Das ist natürlich alles keine Vorhersage und es gibt mehr als 2 Dutzend ungeklärte Fragen, die vieles verändern könnten. Es soll hier erkennbar werden, in welche Lage wir kommen könnten, und warum wir sehr schnell und sehr genau prüfen müssen, welche Handlungsoptionen wir anwenden wollen.

Sehr gerne hätte ich Unrecht mit allem was jetzt kommt. Aber alleine nur die Tatsache, dass dies MÖGLICHE Entwicklungen sind, muss uns zu denken geben.

Theoretischer Verlauf der Inzidenz ohne/mit Lockdowns

Für verschiedene Lockdown-Termine sieht das so aus (Achtung: Log-Skala, oben abgeschnitten):

Auf einer linearen Skala sieht das so aus (auch wieder oben abgeschnitten):

Würden wir am 20.12. einen Lockdown machen (blaue Linie, modelliert sind 35% Absenkung des R-Wertes) würde über Weihnachten die Inzidenz sinken um dann zum Jahresstart stark zu steigen. Jede Woche später bringt ein Lockdown zwar dann eine Abflachung der Kurve im neuen Jahr, aber keinerlei Entlastung mehr für das Gesundheitssystem.

Wenn wir nichts tun (orange Linie), und Omikron ohne Verhaltensänderungen/Maßnahmen durchlaufen lassen, geht die Inzidenz Ende Januar schon wieder runter, dann waren alle Infizierbaren infiziert.

Die pinke Linie, der Bürgerlockdown, dreht immerhin bei Inzidenz 7.000 um, bis April wären über 20 Millionen Menschen infiziert worden.

Das “meine Linien” hier nicht nur reine Fantasie sind, sieht man, wenn man sich die Vorhersage nur für die nächsten 2 Wochen (!) für Scotland und England vom fabelhaften John Burn-Murdoch für die FT anschaut: Das gleiche Bild. Er zeigt uns nur 2 Wochen von dieser Kurve….

https://twitter.com/jburnmurdoch/status/1469427329906663424

Prinzipiell gilt: Je weniger hoch die Welle ist, umso länger dauert sie und umso weniger gleichzeitig strömen die Patienten in die Krankenhäuser und desto weniger Arbeitende fallen gleichzeitig wegen einer Erkrankung aus.

Für diese extremen Durchseuchungsszenarien ist mein Modell wahrscheinlich nicht mehr gut geeignet, deswegen habe ich die Kurven oben und nach rechts abgeschnitten. Es geht hier nicht darum, den genauen Verlauf bzw. die genaue Höhe der Kurve oder deren genaue Position auf der Zeitachse vorherzusagen, es geht darum mit Szenarien die Zukunft zu erahnen.

Theoretischer Verlauf der ITS-Belastung

Während die Daten-Grundlagen der oben gezeigten Inzidenzkurve zumindest noch etwas robuster sind (wir sehen diese Entwicklungen schon in anderen Ländern), kommen jetzt eher spekulative Kurven, was man ja auch daran sieht, dass die modellierte Erkrankungsrate von “so wie Delta” bis “1/10-tel. von Delta” sehr breit gefächert ist. Es könnte sich auch noch herausstellen, dass die tatsächlichen Krankenhaus/ITS-Quoten noch oberhalb oder unterhalb dieses Bereichs liegen.

In den Kurven ist zu sehen, dass die von der DIVI gemeldete COVID-Intensiv-Belegung niedriger ist als das Modell es erwartet. Dazu verweise ich nochmal auf die Delta-Grafik ganz oben: Die Krankenhäuser/Intensivstationen können offensichtlich lastbedingt nicht mehr alle Patienten so gut versorgen wie sonst, was zu erhöhter Sterblichkeit führt (übrigens auch bei allen nicht-Covid-Patienten, die Hilfe brauchen). Da dies bisher nicht berechenbar ist, bleibe ich bei meinen idealisierten Modellzahlen.

Die Kurven sehen auf einer oben abgeschnittenen Log-Skala wie folgt aus:

Auch wieder auf linearer Skala:

Nur die drei Lockdown-Szenarien schaffen nochmal eine Entlastung der Krankenhäuser bevor die Omikron-Welle voll kommt. Nur das grüne Szenario, in dem Omikron nur 1/10-tel so krank macht wie Delta, sieht erträglich aus (und hat danach im März nochmal einen Peak bei ca. 10.000 ITS Betten).

Erkenntnis: Nur wenn Omikron in der Größenordnung von 90% weniger Krankheits-/Patienten-Last erzeugt als Delta bleibt diese Welle im Rahmen dessen, was wir schon erlebt haben – und das auch nur zusammen MIT einem Lockdown.

In allen Szenarios ohne einen schnellen, breiten, synchronisierten, (staatlich) organisierten Lockdown haut die ITS-Belegung als Indikator für die Belastung des Gesundheitssystems in meinen Modellrechnungen “nach oben ab” in Bereiche, die wir in Deutschland noch nicht erlebt haben.

Was tun wir, um das zu verhindern? Ich mache hier Mathematik und keine Politik. Ich beneide die Politiker nicht, die jetzt Entscheidungen treffen müssen. Aber sie müssen entscheiden, die Szenarien liegen auf dem Tisch (auch von vielen anderen), keiner darf von dem was kommt noch “überrascht sein” in 2-4 Wochen.

Zum Schluss noch zwei Tweets von Experten, den Anfang macht Isabella Eckerle:

Es wird “zu massiven Einschränkungen kommen: koordiniert oder krankheitsbedingt.

“Darauf müssen wir uns vorbereiten”, sagt auch unser Gesundheitsminister. Was er jetzt wohl vor hat?

Danke an Twitterer @FrauStahlhut, @maewald, @HDirkSchmitt1, @icestormfr, @lovelyropes, @aloa5 und @aurelwuensch (in no particular order) für Feedback/Input beim Schreiben dieses Blogposts.

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG