EU-Verbot von Russia Today und Sputnik: Infor­ma­ti­ons­f­rei­heit im Aus­nah­me­zu­stand

Gastbeitrag von Prof. Dr. Wolfgang Schulz

23.04.2022

Die EU hat russische Propagandasender verboten. Hat sie dabei ihre Kompetenz überschritten und Kommunikationsfreiheiten auf der Strecke bleiben lassen? Wolfgang Schulz analysiert und warnt vor einem ungeregelten Ausnahmezustand.

Wir erleben einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der auch mit kommunikativen Mitteln geführt wird. Staatssender wie Russia Today (RT) betreiben in diesem Krieg Propaganda für die Russische Föderation. Vor diesem Hintergrund hat der Rat der Europäischen Union (EU) am 1. März 2022 die RT-Sender sowie Sputnik verboten. Es handelt sich jeweils um Sender des staatlichen russischen Medienunternehmens Rossija Sewodnja. 
 
Die Verordnung wirkt. RT und Sputnik sind auf Google, Twitter, Facebook nicht mehr zu finden. Doch so nachvollziehbar das Verbot politisch auch sein mag, es ruft eine Vielzahl von grundsätzlichen Rechtsfragen auf. Das betrifft vor allem die Geltung der Meinungs- und Informationsfreiheit in Kriegszeiten, aber auch Fragen zur Kompetenz der EU zur Regelung von Kommunikationsrecht, auch in Friedenszeiten.

Umgesetzt wird das Verbot durch Art. 2f der Verordnung (EU) 833/2014. Danach werden zum einen Rundfunklizenzen für die Sender ausgesetzt (Art. 2f Abs. 2). Zum anderen wird es Drittunternehmen ("Betreibern") verboten, Medieninhalte von RT und Sputnik (siehe Anhang XV) zu senden oder weiterzuverbreiten (Art. 2f Abs. 1). Explizit genannt wird die Verbreitung von Inhalten über Kabel, Satellit, IP-TV, Internetdienstleister, Internet-Video-Sharing-Plattformen oder -Anwendungen. Das Verbot ist also umfassend, Teil des Problems ist aber schon, dass man nicht genau weiß, was es umfasst.    

Informationsfreiheit durch Wirtschaftssanktionen einschränken? 

Die Lizensierung von Rundfunkprogrammen erfolgt in der Union durch die Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Kompetenz zur Sicherung der freien Meinungsbildung einschließlich der Vielfaltsicherung. Das Europäische Recht selbst sieht keine Zulassungen für Rundfunk vor. Dies ist Ausdruck der Kulturkompetenz der Mitgliedstaaten (zu dieser vgl. EuG, Urteil vom 10. Mai 2016, Rs. T-529/13, Rn. 96). In diesem Bereich hat die Union keine Kompetenz zur Koordination und Harmonisierung, sondern ist im Wesentlichen auf Fördermaßnahmen beschränkt. 
 
Woher nimmt die EU also die Kompetenz zum Sendeverbot? Sie stützt diese, wie auch die übrigen Sanktionen gegen Russland, auf eine Regelung zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU, nämlich Art. 215 AEUV. Danach erlässt der Rat die erforderlichen Maßnahmen zur Umsetzung von Sanktionen, die von den Mitgliedstaaten beschlossen wurden. Allerdings führt die Anwendung des Art. 215 AEUV nicht dazu, dass sich die oben skizzierte Kompetenzordnung grundlegend verändert (vgl. Art. 40 EUV). Das Anknüpfen an die Lizenz bei Sanktionsmaßnahmen – wie in Art 2f Abs. 2 der Verordnung geschehen – wird daher wohl die Grenzen der Kompetenzen der Union überschreiten.  

Europäischen Union darf Verbot nicht regeln 

Denkbar erscheint auf der Grundlage von Art. 215 AEUV zwar ein allgemeines Betätigungsverbot, etwa für RT. Auch Medienunternehmen sind anderen, nicht-medienrechtlichen Regelungen unterworfen, deren Verletzung Maßnahmen bis hin zur Betriebsstilllegung rechtfertigen können. Allerdings ist fraglich, ob nicht immer dann, wenn eine Maßnahme im Kern auf die Wirkung des Mediums auf die Meinungsbildung zielt, dies in die Kulturkompetenz der Mitgliedstaaten fällt. Dies mag anders zu bewerten sein, wenn der Schwerpunkt in einer außenpolitisch begründeten Sanktionsmaßnahme liegt.

Doch im Falle des Verbots von RT und Sputnik geht es nach den Erwägungsgründen der Verordnung explizit darum, eine "systematische internationale Kampagne der Medienmanipulation und Verfälschung von Fakten" (Nr. 6) sowie "Propagandaaktionen" (Nrn. 7, 8) durch Russland zu unterbinden. Die Maßnahme zielt somit gerade auf die Meinungsbildung ab. Hier fehlt der EU die Regelungskompetenz.  

Eine Frage der Kulturkompetenz

Außer bei Deutschland regten sich im Rat wohl keine Bedenken dagegen, Medien in den Sanktionskatalog aufzunehmen. Das zeigt zum einen die Entschlossenheit der Mitgliedstaaten, was Sanktionen gegenüber Russland angeht, möglicherweise aber auch ihre schwindende Bereitschaft, medienpolitische Kompetenzen gegenüber der EU zu verteidigen. Die Richtlinie über Audiovisuelle Mediendienste stellt durchaus Instrumente zum Handeln durch die Mitgliedstaaten bereit, was auch die Notwendigkeit einer Aufnahme in das Sanktionspaket in Frage stellt. 
 
Und auch die Debatte über Gegenstand und Grenzen der Kulturkompetenz der Mitgliedstaaten wird erneut angefacht. Umfasst diese nur die Vielfaltssicherung bei traditionellen Medien, wird ihre Bedeutung abnehmen. Gehören dazu auch die Voraussetzungen des Funktionierens öffentlicher Kommunikation, läge auch die Bekämpfung von Desinformation im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten. Dann wäre übrigens nicht nur die kompetenzielle Grundlage der hier diskutierten Verordnung, sondern auch die des Digital Services Acts brüchig.  

Kommunikationsfreiheiten gelten auch in Krisenzeiten  

Auch bei Maßnahmen nach Art. 215 AEUV ist die Union an die Grundrechtecharta (GRCh) gebunden (Art. 51 Abs. 1 GRCh). Dies gilt uneingeschränkt auch in Krisenzeiten; die Grundrechtecharta ist keine "Schönwetterordnung". Hier kann vor allem Art. 11 Abs. 1 GRCh betroffen sein: die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit. Insoweit sind gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh auch die in der EMRK verbürgten Freiheiten (Art. 10 EMRK) und die Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen.    
 
Neben den Grundrechten betroffener Unternehmen ist auch die Informationsfreiheit einschlägig, wenn Unionsbürger kommunikative Inhalte empfangen wollen, die Verbreitung aber durch einen Rechtsakt verhindert oder wesentlich erschwert wird (vgl. EGMR, Urteil vom 20. Juni 1989, Nr. 12 726/87, Rn. 44 ff.). Die Störung des Empfangs von "Feindsendern" kann geradezu als klassischer Fall eines Eingriffs in die Informationsfreiheit gelten.  

Hohe verfassungsrechtliche Bedeutung der Informationsfreiheit 

Das Bundesverfassungsgericht räumt der Informationsfreiheit einen besonders hohen Stellenwert ein: "Es gehört zu den elementaren Bedürfnissen des Menschen, sich aus möglichst vielen Quellen zu unterrichten, das eigene Wissen zu erweitern und sich so als Persönlichkeit zu entfalten" (BVerfGE 27, 71, 81), auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Auch in der GRCh und der EMRK ist sie als eigenständiges Grundrecht anerkannt (EuGH, Urteil vom 24. November 2011, Rs. C-70/10, Rn. 50). 
 
Fragen des Grundrechtsschutzes der von der Verordnung betroffenen Unternehmen sind differenziert zu betrachten. Ausländische Staaten können sich nicht auf Art. 10 EMRK und auch nicht auf Art. 11 GRCh berufen. Hier wäre zu fragen, ob die Beziehungen der in Anhang XV aufgeführten Unternehmen zum russischen Staat dergestalt sind, dass sie als staatlich gelten und keinen Grundrechtsschutz in der Union genießen; dafür spricht prima facie viel. Die in Art. 2f Abs. 2 genannten "Betreiber", die die Verbreitung "ermöglichen, erleichtern oder auf andere Weise dazu beizutragen", dürften allerdings uneingeschränkten Grundrechtsschutz genießen. 

Bislang nicht abschließend geklärt ist, ob Art. 11 GRCh eine "Polizeifestigkeit" der Medien sichert. Damit gemeint ist, dass inhaltlich begründete Beschränkungen nur von Gerichten und (unabhängigen) Fachaufsichten auf der Grundlage spezialgesetzlicher Regelungen vorgenommen werden dürfen, nicht aber durch Behörden auf der Grundlage von allgemeinen Gesetzen zur Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung. Der Gedanke der Polizeifestigkeit mag speziell dort besonders schwer wiegen, wo es um allgemeine und präventive staatliche Verbote der Medienbetätigung aus inhaltlichen Gründen geht. Insofern sind Fragen der praktischen Umsetzung grundrechtsrelevant, nämlich welche Behörde auf welcher Ermächtigungsgrundlage handelt.     

Rechtfertigt der Einfluss von RT Einschränkungen? 

Beschränkungen müssen jedenfalls, auch in Krisenzeiten, die allgemeinen Grundsätze für Schrankenregelungen erfüllen. Hier sind die Erwägungsgründe der Verordnung recht undifferenziert. Sicher ist die Gefahr für Anrainerländer mit großen Bevölkerungsteilen mit Bezug zu Russland anders zu beurteilen als in Westeuropa. Belege dafür, dass etwa hierzulande der Einfluss russischer Propagandamedien steigt, gibt es kaum. Hier wird man bei ad-hoc-Maßnahmen in Krisenzeiten Beurteilungsspielräume anerkennen müssen, allerdings haben auch diese Grenzen.  
 
Ein weiterer, rechtlich bedenklicher Trend zeigt sich in unmissverständlichen Aufforderungen der Kommission an die Betreiber von Internetplattformen, Inhalte zu löschen, sogar aus den Suchergebnissen. Es stellt sich – wie zuvor bereits im Falle durch politischen Druck erwirkter Verhaltenskodizes oder einflussreichen privaten Initiativen wie dem Global Internet Forum to Counter Terrorism – die grundsätzliche Frage, ob Staaten oder auch die EU-Institutionen ihrer Grundrechtsbindung dadurch entgehen können, dass sie informell zur Selbstregulierung drängen

Der Verordnung fehlt es an Bestimmtheit 

Das Verbot der Sendung und Verbreitung in Art. 2f Abs. 1 der Verordnung gilt unmittelbar. Eines Umsetzungsaktes der Mitgliedstaaten bedarf es nicht. Hier stellt sich allerdings vor allem für Betreiber von Medienplattformen die Frage, was genau von ihnen verlangt wird. Ihnen wird in Art. 2f der Verordnung auch untersagt, "auf andere Weise dazu beizutragen", dass die verbotenen Sender ihre Inhalte senden und verbreiten. Das ist so vage, dass sich hier das Problem der hinreichenden Bestimmtheit stellt. Soll für die Betreiber nun auch abweichend von Art. 15 E-Commerce-Richtlinie eine allgemeine Überwachungspflicht gelten?

Die Verordnung lässt jedenfalls nicht erkennen, dass sie eine Grundlage für Eingriffe in Datenschutzrechte der Nutzenden, etwa durch Analyse und Filtern von Inhalten durch Deep Packet Inspection, rechtfertigt. Auch ob es sich nur um mediale Inhalte oder um jedwede Kommunikation der benannten Unternehmen handelt, ist unklar, die EU Kommission geht wohl von einem sehr weiten Verständnis aus.  

Wird der Zoll zu einer Medienkontrollbehörde? 

Die geforderte Aussetzung von Rundfunklizenzen fordert wohl ein Handeln der Staaten, deren Medienaufsichten eine Lizenz erteilt haben. Das Verfahren der deutschen Medienaufsicht gegen die Veranstaltung und Verbreitung von RT DE erfolgte aber auf Grundlage des Medienstaatsvertrages wegen fehlender Zulassung und war keine Sanktionsmaßnahme (auch wenn Russland es so aufgefasst hat). In einem Eilverfahren hat das VG Berlin das Verbot für das Programm von RT DE inzwischen bestätigt (Beschl. v. 17. März 2022, Az. VG 27 L 43/22). Insofern gibt es in Deutschland keinen Handlungsbedarf.      
 
Im Hinblick auf das an die Betreiber gerichtete Sende- und Verbreitungsverbot ist fraglich, ob Staaten eine Behörde einsetzen müssen, die überwacht und durchsetzt, dass die Verbote eingehalten werden. Klar zu entnehmen ist das der Verordnung nicht. In Deutschland waren neben dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle die Landesmedienanstalten, die Bundesnetzagentur, die Polizei und der Zoll im Gespräch; an letzterem bleibt es wohl hängen. Hier wird grundsätzlich das Problem der Polizeifestigkeit wieder relevant, auch wenn die betroffen Medien nicht grundrechtlich geschützt sind.  

Medienverbote auf geregelten Ausnahmezustand beschränken 

Die Frage nach dem "Was nun?" ist nicht so einfach zu beantworten. Mit dem von der EU geplanten Media Freedom Act (MFA) wird gerade ein Gesetzesvorhaben diskutiert, in dem ein Verfahren für die Zukunft festgelegt werden könnte, um Konfliktinformationsrecht nicht im Rahmen von Wirtschaftssanktionen regeln zu "müssen". Zuständig wären dann unabhängige Medienregulierer der Mitgliedstaaten, die in der European Regulators Group for Audiovisual Media Services (ERGA) zusammengeschlossen sind. Jedenfalls bedarf es konzeptioneller Überlegungen für einen Ausnahmezustand. Zielführend dürfte insoweit im Sinne Ernst-Wolfgang Böckenfördes nur ein "ausgeformtes und in sich umgrenztes Rechtsinstitut" für Krisenzeiten sein. 
 
Der MFA könnte auch genutzt werden, Mindeststandards für die Staatsferne festzulegen, wie es sie in Deutschland bereits gibt, und zwar hinsichtlich der Beteiligung des Mitgliedstaates, aber auch ausländischer Staaten. Die Entwicklung, etwa in Ungarn, ist insoweit erschütternd: Über 50 % der Medien sind dort in der Hand regierungsnaher Akteure.  

Freiheiten opfern, um sie zu schützen?

Damit ist die anfangs aufgerufene politische Frage wieder auf dem Tisch, wieviel Medienregulierungskompetenz die Mitgliedstaaten in die Hand der EU legen. Argumente à la "das hilft Putin" oder "das hilft Orban" sollten diese Debatte nicht dominieren, sondern vielmehr unsere Vorstellungen einer freiheitlich-demokratischen Medienordnung.

Die europäischen Werte zu opfern, um sie zu schützen, ist selten eine gute Idee. Die Krise kann aber Anstoß für eine Sachdebatte über die Zukunft der europäischen Medienordnung sein.  
 
 
Prof. Dr. Wolfgang Schulz

Lehrstuhl für Medienrecht, Öffentliches Recht und Rechtstheorie an der Universität Hamburg,

Direktor des Leibniz-Instituts für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut,

Direktor des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft

Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für die Freiheit der Kommunikation und Information
 

Zitiervorschlag

EU-Verbot von Russia Today und Sputnik: Informationsfreiheit im Ausnahmezustand . In: Legal Tribune Online, 23.04.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48223/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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