Interview

Klaus von Dohnanyi: «Russland sollte nicht auf Dauer ein Feind bleiben»

Über Putin-Versteher, Entspannungsdiplomatie und divergierende Interessen zwischen Europa und den USA: Der Jurist und langjährige SPD-Politiker im Gespräch.

Hannah Bethke, Hamburg
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Der promovierte Jurist und Sozialdemokrat Klaus von Dohnanyi wurde 1928 in Hamburg geboren. Von 1972 bis 1974 war er Bundesbildungsminister, von 1981 bis 1989 Erster Bürgermeister in Hamburg.

Der promovierte Jurist und Sozialdemokrat Klaus von Dohnanyi wurde 1928 in Hamburg geboren. Von 1972 bis 1974 war er Bundesbildungsminister, von 1981 bis 1989 Erster Bürgermeister in Hamburg.

Eventpress Stauffenberg / Imago

Herr von Dohnanyi, in Ihrem neuen Buch «Nationale Interessen» beobachten Sie eine Renationalisierung der Politik – trotz der Globalisierung. Was meinen Sie damit?

Nationale Interessen werden in einer Welt der Vernetzung immer relevanter, weil jeder einzelne Staat von den internationalen Veränderungen unterschiedlich betroffen wird, auch innerhalb der EU: Frankreich will Atomenergie, Deutschland nicht. In Zeiten globaler Krisen und Umbrüche ist angesichts dieser Renationalisierung der Politik die internationale Kooperation besonders wichtig, gerade zwischen den Grossmächten USA, China und Russland.

Was bedeutet das für den Umgang des Westens mit Russland?

Es geht nicht nur um Russland; auch die Interessen von Europa und den USA sind nicht identisch. Die USA verlegen ihre Priorität nach Asien, mit Rückwirkungen für Europa und die europäische Sicherheitslage. Denn Russland hat seine Bedeutung für Europa nicht verloren und sollte nicht auf Dauer ein Feind bleiben.

Ihr Buch ist vor dem Ausbruch des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine erschienen. Dort machen Sie den Westen mitverantwortlich für die zunehmende Entfremdung Russlands. Würden Sie das heute immer noch sagen?

Für den Krieg ist nur Russland verantwortlich. Aber als die Bedrohung eines Krieges für die Menschen in der Ukraine wuchs, waren die USA nicht bereit, über die zentrale Frage, ob die Ukraine in die Nato kommt, auch nur zu verhandeln. Heute scheint Selenski offenbar selber bereit, darauf zu verzichten. War der Krieg also vielleicht doch vermeidbar?

Manche halten Putin für unberechenbar.

Die USA haben doch wochenlang den Krieg vorausgesagt. War Putin in diesem Sinne dann doch berechenbar? Es ist zu spät, um darüber zu spekulieren, ob die USA auch wussten, wie man eventuell Putin von seiner fatalen Entscheidung hätte abhalten können. Die Nato-Frage wurde ja öffentlich nicht mehr diskutiert.

Aber es gab seitens der westlichen Partner, auch auf deutscher Seite, Bemühungen um Verhandlungen, bevor der Krieg ausgebrochen ist. Sehen Sie das nicht so?

Die Deutschen haben da nichts zu sagen und die Franzosen auch nicht: Washington und der Nato-Generalsekretär Stoltenberg bestanden doch darauf, man dürfe mit niemandem darüber verhandeln, wer in die Nato aufgenommen werden dürfe. Eine Art Ehrensache.

Was wäre denn die Alternative zur Nato-Erweiterung gewesen? Erweist sich der Weg jetzt nicht als genau richtig, um der imperialen Grossmacht Russland entgegenzutreten?

In dieser Frage teile ich die Auffassung des heutigen Chefs der CIA, William Burns, der noch 2019 die Fortsetzung der Nato-Erweiterung im Wesentlichen für eine sinnlose Provokation hielt. Ich teile auch die Auffassung von Professor Jack Matlock, der als US-Botschafter in Moskau im Februar 1990 dabei war, als Aussenminister James Baker Gorbatschow versprach, die Nato nicht über Deutschland hinaus zu erweitern. Gentlemen, don’t disagree about facts!

Welche Alternative hat die Ukraine, wenn sie nicht Mitglied der Nato wird?

Dieselbe Möglichkeit wie Österreich, Finnland, Schweden und Irland: Wir haben neutrale Staaten innerhalb der EU, die nicht in der Nato sind und die auch einen generellen Schutz geniessen. Der beste Schutz bleibt allerdings immer: Verständigung mit dem Gegner.

Sie haben immer wieder gefordert, der Westen müsse sich bemühen, Russland und auch Putin «zu verstehen». Sind aber die vermeintlichen Putin-Versteher nicht gerade die Ursache für die gegenwärtige Eskalation?

Hätte man Putin verstanden, dann hätte man auch sehen können, dass er eventuell aggressiv wird, wenn man in der Nato-Frage nicht nachgibt. Verstehen heisst nicht billigen. Es heisst aber, dass man sich auch in den Kopf und in die Überlegungen des anderen hineinversetzt. Wer sagt, man müsse Putin nicht verstehen, der sollte mal darüber nachdenken, warum es den Krieg jetzt gibt; man hatte ihn offenbar nicht verstanden.

Wenn man aber jetzt versucht, Putin zu verstehen und ihn richtig einzuschätzen, müsste die naheliegende Antwort nicht die sein, Europa aufzurüsten und militärische Stärke zu zeigen?

Die Erfahrung, die wir jetzt gemacht haben, bedeutet natürlich auch, dass wir uns militärisch selbständiger machen müssen. Das ist richtig, aber ohne Entspannungsdiplomatie nicht ausreichend.

Was meinen Sie damit genau?

Die Nato muss aus der Ukraine-Krise auch lernen, dass offenbar militärisch allein der Frieden nicht gesichert werden kann.

Kann man denn überhaupt noch mit Putin verhandeln?

Natürlich, das macht die Ukraine doch gerade. Auch Kriege beendet man durch Verhandlungen.

Finden Sie es richtig, dass Bundeskanzler Olaf Scholz das Sondervermögen von hundert Milliarden Euro für die Bundeswehr beschlossen hat?

Ja, das muss wohl sein. Wir dürfen aber nie aus dem Auge verlieren, dass Europa sich gegen Russland niemals so verteidigen könnte, dass Deutschland unversehrt bliebe: «Wir sind nicht daran interessiert, als zerstörtes Land erneut befreit zu werden.» Das schrieb Helmut Schmidt schon 1961. Die USA ihrerseits sind nicht gewohnt, auf eigenem Boden Kriege zu erfahren. Eine Nato-Politik, die einen grösseren Krieg in Europa in Kauf nähme, würde die USA nicht verletzen. Deshalb muss Europa eine Aussenpolitik der Nato vorantreiben, die uns durch Diplomatie eine Gegnerschaft mit Russland vom Halse hält.

Auf welchem Weg kann das passieren? Muss Europa sich jetzt nuklear aufrüsten?

Wer das fordert, versteht nichts von Verteidigung. Nukleare Waffen sind Abschreckung nur gegen nukleare Waffen! US-Präsident Biden hat 2021 erneut deutlich erklärt, Amerika werde die Nuklearwaffen nur einsetzen, wenn sie selber getroffen würden. Jeder Einsatz von Atomwaffen würde bedeuten, dass man zwar mit einem «Erstschlag» den Gegner treffen könnte – um dann im «Zweitschlag» des Gegners selber getroffen zu werden. Die nukleare Abschreckung gibt es also für Europa überhaupt nicht. Es gibt sie nicht. Steht alles in meinem Buch. Wann kapieren wir das endlich?

Stimmt die Beobachtung, dass wir gerade in einer Zeitenwende leben?

Ja, wir befinden uns in einer Zeitenwende, die allerdings mehr von Entspannung braucht und nicht weniger. Wir sehen ja jetzt, was es bedeutet, dass die USA sich gleichzeitig mit China und Russland anlegten: China steht nun auf der Seite Russlands! Das europäische Russland ging verloren. Noch immer bestimmen die USA die Aussen- und Sicherheitspolitik Europas. Hatte Biden innenpolitisch nicht den Mut, die Nato-Frage in die Verhandlungen einzubeziehen? War ein amerikanisches Wahlergebnis am Ende wichtiger als eine friedliche Lösung der Ukraine-Krise?

Halten Sie es für richtig, dass die Nato keine Flugverbotszone über der Ukraine verhängt?

Natürlich. Die Nato darf sich nicht einmischen. Es ist unverantwortlich von Selenski, das zu fordern, und unverständlich, dass kein europäischer Staatsmann ihn hier auch öffentlich zurechtweist! Will er Bomben auf den Verkehrslinien Berlin nach Frankfurt an der Oder riskieren, wenn es dann um Nachschub in die Ukraine geht?

Der ukrainische Botschafter Andri Melnik ist sehr verärgert darüber, dass Deutschland ein Embargo russischer Gaslieferungen ablehnt. Er wirft der Bundesregierung Untätigkeit und Verantwortungslosigkeit vor. Können Sie das verstehen?

Ich kann die Erregung der Ukraine verstehen. Das Land hat eine lange Geschichte mit wiederholten Versuchen, sich freizumachen von Beherrschung – entweder von Polen oder von Russland. Die Ukraine hat den Drang nach Selbstbestimmung in ihren Genen. Insofern kann ich natürlich verstehen, dass man jetzt den Versuch macht, den Rest der Welt für die Ukraine zu mobilisieren. Aber hat die jahrelange Aufrüstung der Ukraine durch die USA die Ukraine vor Zerstörung geschützt? Hätte man nicht besser das Minsk-Abkommen realisieren sollen? Für das alles ist es nun zu spät, und nichts rechtfertigt den Krieg, den Putin begonnen hat.

In Ihrem Buch sprechen Sie sich entschieden gegen Sanktionen aus, weil Sie von deren politischen Wirkung nicht überzeugt sind. Gilt das immer noch?

Absolut.

Halten Sie auch die Sanktionen gegen Russland für falsch?

Wir werden sehen. Zunächst werden sie China und Russland weiter zusammenschweissen und auch der Welternährung schweren Schaden zufügen. Auch die Sanktionen gegen Iran haben dazu geführt, dass nach einem eher reformorientierten Präsidenten nun ein Hardliner am Ruder ist; die Sanktionen gegen China haben nur zu Spannungen geführt und nichts bewirkt – kein Uigure wird deswegen von China besser behandelt. Ich glaube, die meisten Sanktionen dienten der Selbstbestätigung gegenüber den eigenen Wählern und haben wenig politisch bewirkt.

War es in dieser Situation nicht dennoch richtig, Sanktionen gegen Russland zu verhängen? Es musste doch jenseits einer militärischen Eskalation alles versucht werden, um den Druck gegenüber Putin zu erhöhen.

Richtig, aber dann hätte man auch gleichzeitig verhandeln müssen. Strafdrohungen sind unzulängliche Politik.

Ist die politische Blindheit gegenüber Russland nur ein Problem der Linken?

Wir haben in gewisser Weise noch immer ein geteiltes Land in Deutschland. In Ostdeutschland gibt es eben Menschen, die auch von einem freundschaftlichen Verhältnis zu Russland geprägt sind.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat sehr lange an Nord Stream 2 festgehalten, und er ist da keine Ausnahme in seiner Partei. Woher kommt eigentlich diese Bedenkenlosigkeit der SPD, das Land von russischem Gas abhängig zu machen?

Es gab im Kalten Krieg keinen Fall, in dem die Sowjetunion Öl oder Gas nicht geliefert hätte. Diese Erfahrung bleibt wichtig. Es gibt im Übrigen ja auch eine gegenseitige Abhängigkeit. Sollen wir stattdessen Gas importieren, das mit klimaschädlichem Fracking hergestellt wird? Nord Stream 2 war für die USA ein bequemer Punkt, um Russland und Deutschland an die Kandare zu zwingen. Russland garantiert auch heute die Gaslieferungen. Teurer ist es übrigens auch deswegen geworden, weil die EU auf kurzfristigen Abschlüssen zu Spottpreisen bestand.

Gibt es für eine Entspannungspolitik mit Russland noch eine Chance?

Ja, natürlich. Sonst würde doch die Ukraine nicht mit Russland verhandeln. Denn die zentralen Streitpunkte lassen sich nur durch Verhandlungen lösen, trotz Putins verbrecherischem Krieg. Die öffentliche Stimmung erschwert gegenwärtig natürlich jeden Verhandlungsschritt, und in Zukunft wird nichts wichtiger sein als die politische Fähigkeit, auch entgegen solchen Stimmungen die Vernunft walten zu lassen. Dazu gehört dann auch politischer Mut.

Welcher Politiker hätte heute den Mut, ungeachtet der Wählerstimmen eine vernünftige Politik durchzusetzen?

Ich habe einen Lieblingssatz für Politiker: Wer nicht bereit ist, zu fallen, der wird auch nicht stehen! Vielleicht überrascht uns Selenski, wenn er jetzt auf die Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato verzichtet und dafür internationale Sicherheitsgarantien bekäme. Das wäre sehr mutig, auch innenpolitisch.

Ist China jetzt für Europa nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine militärische Bedrohung?

Nein. China ist keine militärische Bedrohung für Europa. China ist vielleicht eine militärische Bedrohung für die USA, wenn die USA den Ratschlägen von Henry Kissinger nicht folgen, nämlich mit den Chinesen auf Augenhöhe zu verhandeln, über Abrüstung, über die Möglichkeiten eines Cyber-Krieges und den Einsatz der künstlichen Intelligenz.

Meine Generation ist mit dem politischen Selbstverständnis aufgewachsen, das Zeitalter klassischer Angriffskriege sei überwunden. Putin straft diese Annahme Lügen. Warum schreckt er auch vor brutalen Angriffen gegen die Zivilbevölkerung nicht zurück?

Keine Angriffskriege? Was haben denn die USA im Irak 2003 gemacht? Oder der Krieg Irak gegen Iran in den 1980ern? Jeweils über eine Million Tote und Verletzte!

Sie würden also sagen, das, was Putin gerade macht, unterscheide sich nicht vom Irakkrieg der USA?

Es unterscheidet sich, weil es uns betrifft. Und da sieht man wiederum die nationalen Interessen. Wir müssen wissen, dass geografische Distanz auch etwas im Bewusstsein von Recht und Unrecht verändert. Aber tote Menschen bleiben tote Menschen, überall.

Wie wird die künftige Weltordnung aussehen?

Die USA werden sehr wichtig bleiben. Aber ein Staat, der politisch so gespalten ist und dann alle zwei Jahre wählt, ist ein äusserst unzuverlässiger Partner. Denn die grossen Aufgaben der Welt haben keine Chance, wenn die Grossmächte so gespalten bleiben.

Wie kann ein Zusammenwachsen der Welt gelingen?

Europa hat es doch gezeigt. Noch vor hundert Jahren haben wir Krieg mit Frankreich geführt. Wir haben begriffen, dass man zusammenhalten muss. Diese Chance hätte vielleicht auch mit Russland bestanden, wenn man nach 1990 nicht den Kalten Krieg mit anderen Mitteln fortgesetzt hätte.

Was verstehen Sie unter einem Kalten Krieg mit anderen Mitteln?

Entgegen den Zusagen wurde die Nato erweitert. Es gab eine Umkehr des berühmten Satzes von Clausewitz, Krieg sei eine blosse Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Sie lautet: Auch Politik kann eine blosse Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sein. Man hat den Kalten Krieg nicht in Entspannung, sondern in einen Sieg Amerikas umgewandelt. Wie man heute sieht, hatte das katastrophale Folgen, auch psychologisch, siehe die deutsche Hysterie gegenwärtig.

Wo sehen Sie diese Hysterie besonders?

Es wurden zum Beispiel Emigranten aus Weissrussland, die schon lange hier leben, nicht auf die Leipziger Buchmesse eingeladen. Das betrachte ich als eine Hysterie. Oder dass in Berlin die Russen angefeindet werden. Ich wünsche mir, dass da auch einmal der Bundestag eingreift. Die Russen, die hier sind, das sind nicht unsere Feinde.

Fürchten Sie, es könnte zu einer weltweiten Ausweitung des Krieges kommen?

Ich fürchte das schon. Aber ich hoffe, dass alle vernünftig bleiben und sehen, dass man die Nato unter allen Umständen raushalten sollte und dann versuchen muss, in der Ukraine selbst eine Verhandlungslösung zu finden.